Die vielfältigen Beziehungsprobleme dieser heiklen Verbindung kenne ich aus eigener Anschauung, und zwar von beiden Seiten. Zitternd blätterte ich in den Tagen nach meinem Debüt als studentischer Solobratscher in der Unterkirche der Dresdner Frauenkirche die Kulturteile der beiden lokalen Zeitungen durch – und mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich – erstens! – überhaupt einen Text über unser bescheidenes Konzert fand und – zweitens – der Kritiker, der mir später als Kollege knurrig, aber doch knurrig zugetan erschien, nur ganz freundliche Worte über mein Casadesus-Konzert fand. Erst viel später verstand ich langsam, wie verklausuliert sich viele Zeitungsrezensenten über die Musik, besonders die Laienmusik, äußern. Dass es manchmal wichtiger ist, zwischen den Zeilen zu lesen und zu verstehen, wen und was der Rezensent eben gerade nicht erwähnt hat, oder wie vernichtend scheinbar gönnerhafte Formulierungen manchmal gemeint sein können. Diese Beurteilungen, die sich interessierte Zeitungsleser nur durch lange Erfahrung entschlüsseln können, stehen denen in deutschen Arbeitszeugnissen in nichts nach. Sie sollen hier auch mitnichten entschlüsselt werden, denn sie sind – wie tagesaktuelle Musikkritiken überhaupt – dem baldigen Tod geweiht. Warum? Einfach, weil niemand, noch nicht einmal der abgehärtetste sado-masochistisch veranlagte Laienmusiker, heute noch oberlehrerhafte Bewertungen längst zurückliegender Kulturereignisse lesen mag. Dazu ist die ganze Szene heute zu vielfältig, zu schnell, zu multimedial und zu egalitär geworden. Was kümmert mich und mein Ensemble die strenge Predigt eines alten Mannes von gestern? Die Cellistin hat ein Bild von mir in der Konzertpause auf Instagram veröffentlicht, und das hat schon zweiundvierzig Likes bekommen, unter anderem von dem sympathischen zweiten Geiger am letzten Pult. Was will man mehr?
Als junger Musikkritiker geht man ja auch nicht gerade freiwillig in diese Konzerte. Sie sind ein notwendiges Übel auf der Rezensentenleiter, so wie junge Lokaljournalisten sich durch bittere Lehrjahre auf Kaninchenzüchter-Events, Friseurausscheiden und (immerhin!) Weinfesten durchbeißen bzw. sich selbige schöntrinken müssen. In diesen Konzerten sitzt man erfahrungsgemäß unter freudig erhitzten, oft nicht einmal allzu konzertaffinen Familienmitgliedern der Orchestermusiker, hört sich ein mal mehr, mal weniger interessantes Konzert so recht und schlecht vorgetragen an, wie es eben unter den Umständen (große Bandbreite der technischen Fähigkeiten, zu
wenig konzentrierte Proben, von denen die meisten Orchestermitglieder leider, leider nur die Hälfte wahrnehmen konnten, Kirche zu kalt oder zu warm, Erstes Horn ist leider krank, dem Bratscher ist beim Stimmen die D-Saite gerissen und er hat keine weitere dabei, und der Solocellist sägt schon Jahrzehnte über seinen Zenit hinweg, aber keiner sagts ihm, etc. pp.) möglich ist. Die allerschlimmste Quälerei für den Rezensenten beginnt indes erst nach dem Konzert. Denn: was schreibste denn jetzt? Dass es grottenschlecht war?
Damit vergraulte ein Rezensent nicht nur die wenigen verbleibenden treuen Abonnenten des jeweiligen Blattes – darunter natürlich auch nicht wenige der älteren Orchestermitglieder. Manche von ihnen halten die Tageszeitung ja nur noch »wegen des Kulturteils«, sprich: weil diese Zeitung noch ab und an über das geliebte Orchester schreibt. Keiner will zudem Kritiken lesen, die das Offensichtliche anprangern: eben, dass hier Laien werkelten, die den technischen Herausforderungen der Musik nicht bis ins Letzte gewachsen waren. Schamhaft formulieren die Kolleginnen in so einem Fall von »Intonationstrübungen« oder »Temposchwankungen«, wo sie grässliche Misstöne der Holzbläser und ein hektisches Auseinanderdriften der nervösen Celli und der abgeklärten Bässe meinen. Denn darum geht es ja augen- und ohrenscheinlich weder dem Publikum solcher Konzerte noch den Musikerinnen und Musikern. Nein, der Zweck solcher Konzerte ist ein ganz anderer. Man möchte gemeinsam mit seinen Freunden inspirierende Werke so gut wie eben möglich musizieren – und man möchte die Freude daran mit möglichst vielen anderen teilen. Stimmts?
Musikkritiker dürfen ihrerseits zu Recht die Frage stellen: Was wollt ihr denn von mir, liebe Laien? Wollt ihr einen »Liebhaberbonus« als nachgewiesen drittklassiges Ensemble in Anspruch nehmen? Soll ich das hingebungsvoll schmachtende Vibrato des Bach-Stokowski-Machwerks gnädig hinnehmen – oder darf ich ansprechen, wie verstaubt-gestrig mir die Interpretation des schwungvoll ausgreifenden und sichtlich selbst ergriffenen Dirigenten insgesamt erschien? Oder eine für mich persönlich noch kitzligere Frage: Sollte ich dem langjährigen Konzertmeister, der sich nun auch endlich einmal den Solopart des Bruch-Konzerts verdient hat, wirklich damit kommen, dass heutzutage jede achtjährige koreanische Jungstudentin das Ding kraftvoller, farbiger, technisch und stilistisch überzeugender musiziert?
Wie tief die durch Musikkritik geschlagenen Wunden sind, zeigen die verlässlich auf jede Besprechung folgenden, gern und oft süffisant formulierten Leserbriefe der empörten ›Angehörigen‹. »Neulich genossen wir glücksstrahlend die Sechste Beethoven in der Herzjesukirche – und mussten danach den Verriss Ihres Kritikers lesen. WAR DER KRITIKER ÜBERHAUPT ANWESEND? Wenn ja, hätte er bestimmt … usw.« Was die Briefeschreiber dabei wissen oder zumindest ahnen: Natürlich war der Kritiker anwesend, obwohl er in manchen Fällen vielleicht lieber zuhause geblieben wäre. Klar,
ein schlecht gelaunter Joachim Kaiser konnte in der Pause einfach gehen und die hälftig gewonnenen Eindrücke in seiner Lieblingsbar ertränken. Aber freie Musikjournalisten können es sich schlicht nicht erlauben, ein Konzert vor dem Schlussapplaus zu verlassen. Es gibt zu viele Zeugen – und zu viele Konkurrenten, die das magere Zeilengeld liebend gern selbst einstreichen würden.
Wenn dieser Text bis hierher vielleicht manchem als doppelt-larmoyante Selbstbemitleidung erschienen sein mag, so folgt jetzt eine produktive Pointe. Ich habe da nämlich einen Vorschlag – dessen Umsetzung allerdings von Amateurmusikern nicht wenig Mut erfordert. Hier meine Anregung: Liebe Liebhaber, bindet angehende wie erfahrene Musikjournalisten taktisch klug in euren Orchesteralltag ein. Sie müssen ja nicht unbedingt gleich mitspielen! Aber sie könnten den Probenalltag lose begleiten, beginnend bei der Werkauswahl, damit sich sentimental-übermotivierte Altmitglieder nicht dramaturgisch allzusehr vergaloppieren. Die Einstudierung würde an Effizienz punktuell gewinnen, meine ich, wenn ein externer Referent nach der ersten Anspielprobe bei einer vom Dirigenten spendierten Weinrunde eine spannende Werkeinführung geben und beispielsweise auf wegweisende Aufnahmen, technische Besonderheiten (der Hammer in Mahler 6!) und sonstige versteckte Herausforderungen der auf den Pulten liegenden Musik eingehen könnte. Bleibt die technische Einstudierung dem Dirigenten und den jeweiligen Dozenten in den Registerproben überlassen, so würde doch ein Musikkritiker während einer Durchlaufprobe beim intensiven Probenwochenende oder in der Hauptprobe ein, zwei Wochen vor dem Ernstfall auf klangliche Unausgeglichenheiten hinweisen können oder als externer Berater angstfrei bestimmte Kritikpunkte ansprechen, die entweder der langjährigen Ensemblegeschichte oder moralischen beziehungsweise technischen ‚blinden Flecken‘ der Ausübenden geschuldet sein mögen. Musikstudenten (ja, gerade Hauptfachstudenten!) der nahen Musikhochschule oder angehenden Musikjournalisten sind mit der Redaktion der Programmhefte (Texte, Anzeigenakquise etc.) positiv herausgefordert und zudem für das symbolische Texthonorar dankbar. Ich bin mir sicher, dass das unmittelbare Hörerlebnis im Konzertsaal sowie langfristig die spielerische Qualität im Ensemble enorm von so einer Zusammenarbeit profitieren würden.
Wir müssen nur einfach mal rechtzeitig ein bisschen aufeinander zugehen.
Martin Morgenstern studierte Musikwissenschaften (Nebenfach Viola) an der Musikhochschule FRANZ LISZT Weimar und dem Royal Holloway College London. Er promovierte über die psychophysiologischen Wirkungen von Musik. Neben seinem Studium war er in verschiedenen Amateur- und semiprofessionellen Orchestern (von der Jungen Sinfonie Berlin bis zum German Mozart Symphony Orchestra) aktiv. Er ist Autor zahlreicher Programmhefttexte und Konzerteinführungen u.a. für die Dresdner Philharmonie, den Dresdner Kreuzchor oder die Dresdner Musikfestspiele, für Festivals wie AlpenKLASSIK oder das Musikfest Erzgebirge, darüber hinaus für Amateurensembles wie die Dresdner medicanti oder das Haydn-Orchester Dresden.