BDLO-Akademie in Bad Hersfeld geht innovative Wege zur Zukunftsforschung in der Amateurmusik
Schwindende Mitgliederzahlen, Überalterung im Orchester und fehlende zeitliche Ressourcen – diese Themen dürften in vielen Amateurorchestern heute schon für Diskussionsstoff sorgen. Doch wie sieht es in zehn Jahren aus? Welche Aspekte spitzen sich weiter zu, was relativiert sich? Wie kann ehrenamtliches Engagement im Orchester in Zukunft gestaltet werden und welche Rolle sollte dabei die Verbandsarbeit spielen? Diesen Fragen widmete sich die BDLO-Akademie im Rahmen eines Workshops am 20. September 2025 in Bad Hersfeld unter Anwendung der Foresight-Methode.
Zentraler Untersuchungsgegenstand dieses Vorgehens sind gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die für zivilgesellschaftliche Organisationen, wie Orchester und Verbände, relevant sind und deren Arbeit maßgeblich prägen. Aus diesen Einflussfaktoren werden in einem zweiten Schritt Trendannahmen entwickelt, die vorstellbare Entwicklungen für einzelne dieser Faktoren in den Blick nehmen. Aus der Kombination dieser Trendannahmen lassen sich schließlich Positiv- und Negativszenarien ableiten, wie die Zukunft möglicherweise aussehen könnte. Abschließend werden konkrete Handlungsoptionen entwickelt, mithilfe derer wir bereits in der Gegenwart auf diese Szenarien fördernd bzw. bremsend einwirken können.
1. Warum mit Zukunft beschäftigen?
Gesamtgesellschaftliche Herausforderungen, wie der demographische Wandel, die digitale Transformation oder die Klimakrise, haben Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung der Zivilgesellschaft. Veränderungen in der Arbeits- und Lebensweise, die Neustrukturierung sozialer Sicherungssysteme, die Gewinnung von Fachkräften sowie die Forderung nach entschlossenem und koordiniertem Handeln in Krisensituationen und Konflikten resultieren aus diesen teilweise rasant fortschreitenden Veränderungen. Und viele weitere Faktoren beeinflussen spezifisch die Arbeit gemeinnütziger Organisationen und Vereine. Viele Menschen wünschen sich heute flexible, kurzfristige Beteiligungsmöglichkeiten anstelle langfristiger Verpflichtungen. Es wundert daher nicht, dass es immer schwieriger wird, Engagierte für ehrenamtliche Leitungsaufgaben zu finden. Doch für eine zukunftsorientierte Mitgestaltung unserer Gesellschaft genügt es nicht, sich dem Wandel einfach nur anzupassen. Das Wissen um die sich verändernden Rahmenbedingungen ist ein zentraler Baustein für eine aktive Teilhabe. Für die Amateurmusik heißt das, die relevanten Einflussfaktoren zu identifizieren und aus der Rolle reiner Reaktion heraus in die des aktiven Gestaltens zu treten.
2. Was ist Foresight?
Foresight (auf Deutsch: Vorausschau) ist eine Methode aus der Zukunftsforschung, die genau das ermöglicht: auf Basis aktueller gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen systematisch mögliche Zukunftsszenarien zu entwickeln, um daraus konkrete Handlungsoptionen in der Gegenwart abzuleiten. Diese Szenarien sind Bilder, die zukünftige Entwicklungen greifbarer machen und eine strukturierte Beschäftigung ermöglichen. Jedes Szenario ist dabei nur eines von mehreren möglichen Zukunftsbildern. Im weiteren methodischen Verlauf werden auf der einen Seite Positivszenarien entwickelt, um zu erarbeiten, wie diese zu erreichen sind. Aber auch Negativszenarien sind hilfreich, um über präventive Maßnahmen nachzudenken. Ein großer Vorteil dieser Methodik liegt darin, die Konsequenzen einzelner Entwicklungen für die eigenen Handlungsspielräume besser zu verstehen.
3. Vorgehensweise im Workshop
Einer Repräsentativbefragung des Institutes für Demoskopie (2025) zufolge musizieren derzeit rund 21% der deutschen Bevölkerung ab sechs Jahren in ihrer Freizeit – etwa zwei Millionen Menschen mehr als 2021. Dieser Zuwachs spiegelt sich jedoch nicht unbedingt in den Amateurmusikensembles wider. Auch wenn immer mehr Menschen aktiv musizieren, heißt das nicht automatisch, dass sie dies auch in festen Vereinsstrukturen tun. Die Workshop-Teilnehmer konnten spontan und zielsicher mögliche Herausforderungen für die Amateurmusik in zehn Jahren benennen. Der Nachwuchsmangel, insbesondere im Bereich des ehrenamtlichen Engagements in Leitungsfunktionen, kristallisierte sich schnell als Konsens heraus. Aber auch die Frage nach der Aufrechterhaltung eines interessierten Konzertpublikums angesichts einer älter werdenden Gesellschaft beschäftigt die Teilnehmenden zunehmend. Der Konkurrenzdruck im Wettbewerb mit anderen Freizeitaktivitäten verstärkt die Frage nach der Gewinnung neuer Mitglieder zusätzlich. Doch wir müssen zunächst einen Schritt zurückgehen: Am Beginn der Foresight-Methode steht die Auswahl möglicher Einflussfaktoren (Schritt 1). Die demographische Entwicklung, steigende Kosten, soziale und ökonomische Spaltung, die Digitalisierung sowie persönliche Ressourcen sind wesentliche Komponenten zivilgesellschaftlichen Engagements in der Amateurmusik.
Auf Basis dieser Einflussfaktoren lassen sich positive und negative Trendannahmen formulieren (Schritt 2). Der demographische Wandel könnte dazu führen, dass sich mehr ältere und erfahrene Menschen engagieren, jedoch die jüngeren Generationen nicht nachrücken, die vom Wissen der älteren Generation profitieren würden. Der Faktor Zeit bietet ebenfalls interessante Betrachtungsoptionen. Vor dem Hintergrund von „Work-Life-Balance“-Fragestellungen könnten Menschen den Faktor Zeit mehr zu schätzen wissen. Um ein glückliches Leben zu führen, suchen sie nach sinnstiftenden Aufgaben in ihrer Freizeit. Andererseits sind viele Menschen in ihrem Beruf so stark eingespannt, dass sie sich in ihrer Freizeit kaum an feste Aufgaben binden können und auf eine gewisse Flexibilität in ihrer Zeitgestaltung angewiesen sind oder sein möchten.
Auf Basis dieser Trendannahmen konnten nun konkrete Positiv- und Negativszenarien entwickelt werden (Schritt 3). Die soziale und ökonomische Spaltung dürfte beispielsweise auf der einen Seite dazu führen, dass Menschen mit geringem Einkommen seltener Möglichkeiten haben, ein Instrument zu erlernen. Angebote der Amateurmusik erreichen dabei oftmals nur schwer periphere soziale Schichten, da viele dieser Menschen eher auf der Suche nach einer zweiten Tätigkeit sind, die sie finanziell absichert, als sich ehrenamtlich zu engagieren. Auf der anderen Seite liegt hier zugleich eine Chance für die Verbände, Anreize für ein Engagement in der Amateurmusik zu schaffen (beispielsweise über die Übungsleiterpauschale) und ihre Rolle in der Gesellschaft durch Angebote zu stärken, allen Bevölkerungsgruppen den Zugang zum Musizieren zu ermöglichen.
Aus den möglichen Szenarien wurden dann im letzten Schritt konkrete Handlungsoptionen abgeleitet (Schritt 4). Dabei gilt es insbesondere zu identifizieren, was bereits heute getan werden kann, um präventiv oder fördernd einem Szenario zu begegnen, welche Kompetenzen langfristig aufgebaut, welche Forderungen an Dritte gestellt werden sollten und wo Allianzen sinnvoll sind. Die Priorisierung der Handlungsoptionen richtet sich dabei nach ihrer Wirkung und dem damit verbundenen Aufwand. Konkrete Handlungsoptionen, die im Workshop-Kontext gemeinsam entwickelt wurden, sind:
- Kulturelle Teilhabe und Zugang für alle, denn die soziale Spaltung beeinflusst nicht nur den Zugang zu Musik, sondern auch die aktive Teilnahme und das Engagement: Chancengleichheit für Menschen unterschiedlichen Einkommens; Entwicklung vielfältiger Angebote, die allen Menschen zugänglich sind; faire Bezahlung von Übungsleitern und Gewinnung von qualifizierten Personen für die musikalische (Erwachsenen-)Bildung
- Stärkung der jungen Generation und frühzeitige Einbindung in Organisationsprozesse: Junge Menschen für ein Engagement begeistern und motivieren; Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen; Entlastungen schaffen und Zusammenarbeit stärken
- Trends beachten und auf ihre Anwendbarkeit prüfen: Digitalisierung; Präsenz in den sozialen Medien; von Good-Practice-Beispielen lernen
- Politischen Dialog suchen, um strukturelle und finanzielle Sicherungen zu ermöglichen: Bürokratieabbau; Fokussierung der (Förder-)Möglichkeiten auf kommunaler Ebene; Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit innerhalb der Amateurmusik stärken
- Amateurmusik sichtbar machen und ihre gesellschaftliche Bedeutung hervorheben
4. Resümee: Nicht den Kopf in den Sand stecken!
Der Workshop hat gezeigt, dass die Amateurmusik in Deutschland von Wandlungsprozessen und gesellschaftlichen Veränderungen in verschiedenen Bereichen geprägt wird. Auch wenn uns einige mögliche Szenarien vor große Herausforderungen stellen, so birgt jede Trendannahme auch zugleich Potenziale, die es zu nutzen gilt. Aus dem Teilnehmerkreis wurde insbesondere die Systematik der Foresight-Methode positiv hervorgehoben. Sie hilft, aus der oft problemorientierten Diskussion auszubrechen und Zukunftsszenarien sowohl optimistisch als auch kritisch zu betrachten. Die Ableitung der Trends aus gesamtgesellschaftlichen Themen war den meisten Teilnehmern unbekannt, da mögliche Probleme häufig eher intuitiv bestimmt werden. Vermischt man zwischendurch die Phasen und fällt aus der Systematik heraus, verliert die Methode ihre Wirksamkeit. Zielsetzung des Seminars war, die Teilnehmenden in die Lage zu versetzen, auf gesellschaftliche Entwicklungen, die sie selbst in ihren Orchestern spüren, angemessen zu reagieren, zukunftsgerichtet zu planen und die besonderen, sich verändernden Bedürfnisse nebenberuflich engagierter Musiker zu berücksichtigen. Es soll ermutigt werden, Bereitschaft zum Wandel zu entwickeln, anstatt zu resignieren. Das Thema dieses Workshops ist von hoher Aktualität und Bedeutung, um Veränderungen in der Struktur der Amateurmusikszene vorbereitet, selbstbewusst und handlungssicher begegnen zu können.


