Cecilie Szkotak Nielsen, Søren Mikael Rasmussen: Mehr Publikum gewinnen. Toolbox für Orchester und Ensembles, Schott 2024, 176 Seiten, 22 Euro – eine Buch-Empfehlung
Orchester, die mehr und neues Publikum gewinnen möchten, finden in diesem Buch genaue Anleitung und unaufdringliche Inspiration. Außerdem sorgt die Auseinandersetzung mit den Vorschlägen und Fragen für eine Erfrischung des Orchesters selbst: Was tun wir und warum tun wir das? Was zeichnet uns als Gemeinschaft aus? Wollen wir etwas Neues ausprobieren?
Die Autoren sind selbständige Kulturberater und haben die Werkzeuge zur Gewinnung von mehr Publikum gemeinsam mit dem dänischem Orchesterverband DEOO entwickelt. Sie gehen davon aus, dass die von ihnen empfohlenen Werkzeuge ebenso lästig wie hilfreich sind, weil sie nicht den bisherigen Gepflogenheiten entsprechen, aber schnell positive Veränderungen herbeiführen.
Für ihr Buch haben sie Dänen befragt, die zum ersten Mal ein klassisches Konzert besucht haben. Zentrale Erkenntnis ist, dass Klassik-Neulinge nicht in der Lage sind, ein Konzert aufgrund des Komponistens oder des Werktitels auszuwählen. Stattdessen treffen sie ihre Wahl danach, welche Erfahrung, Geschichte oder Stimmung das Konzert vermittelt. Neues Publikum interessiert sich kaum für die außergewöhnliche Qualität eines bestimmten Ensembles, sondern für den Wert des Erlebnisses, das der Konzertbesuch bietet. Gerade Laienorchester können sich also in der Verantwortung sehen, neues Publikum für klassische Musik zu begeistern.
Die Auswertung hat ergeben, dass Neulinge am ehesten dann zum ersten Mal ein Konzert besuchen, wenn sie das für sie neuartige Konzertformat mit ihnen bereits bekannten Elementen verbinden können, sodass sie sich nicht zu fremd fühlen. Neulinge kommen wiederholt zu Konzerten, wenn sie überrascht werden und in das Geschehen eingebunden werden, z.B. indem sie auch mal lachen können oder schon im Foyer persönlich angesprochen werden.
Die Werkzeuge sind auf diese erlebnisorientierten Interessen abgestimmt. Sie stellen sicher, dass jedes Konzert auf einer Idee basiert (also mehr bietet als „Ensemble X spielt Programm Y“), die auch Neulinge verstehen können und darum bereit sind, Karten zu kaufen. Zwei besonders wichtige Aspekte hierbei sind das „Geschichtenerzählen“ und die persönliche Beziehung zwischen Publikum und Musikern. Geschichten z.B. von einer bestimmten Konzertreise, von der Bedeutung des eigenen Instruments oder von lebensverändernden Momenten durch Musik binden das Publikum an die Musik. Wenn sich das Publikum mit einzelnen Orchestermitgliedern auf einer menschlichen Ebene verbinden kann, kommt es gerne wieder.
Dafür inspiriert das Buch mit ungewöhnlichen Ideen wie z.B.
- ein Konzert auf einem Friedhof zu spielen
- das Publikum vorab erraten zu lassen, welche Person welches Instrument spielt
- einen Philosophen als Moderator einzuladen
- thematisch passende Getränke anzubieten
- ein 30-Sekunden-Duell zwischen Mozart und Beethoven oder zwischen Geige und Trompete aufzuführen
Überraschend sind auch die Empfehlungen zum Thema „Gastgeber sein“. Gerade für neues Publikum ist es wichtig, frühzeitig (z.B. bereits beim Kartenkauf, vor allem aber im Foyer) begrüßt und an die Hand genommen zu werden. Ebenso wichtig ist auch die Verabschiedung, bei der das Publikum z.B. eine Playlist mit einer passenden Musikauswahl für zu Hause erhalten kann.
Ein weiteres Kapitel leitet zur Publikums-Befragung an. Es zeigt, wer warum wonach mit welchen Methoden befragt werden kann. Die ansprechende und beispielreiche Präsentation macht Lust darauf, sein eigenes Publikum oder die Anwohner des Konzertortes zu befragen, um neue Konzertformate zu entwickeln.
Als Grundlage für die Entwicklung passender Ideen im eigenen Orchester setzen die Autoren auf Markenbildung, ohne dabei BWL-lastig zu sein, weil sie unter „Marke“ die „Essenz des Orchesters in der Wahrnehmung des Publikums“ verstehen. Sie kann sich in einem emotionalen Satz oder in einer ansprechenden Geschichte zeigen. Die Autoren achten zugleich auch auf die Innenseite der „Marke“, nämlich auf die Werte des Orchesters, also auf das, was dem Orchester wichtig ist. Sie bieten Schritt-für-Schritt-Anleitungen und Checklisten, um die eigenen Werte zu identifizieren und eine „Marke“ zu entwickeln. Unabhängig davon, wie engagiert und professionell man auf neues Publikum zugehen möchte, können diese Übungen auch gut dazu genutzt werden, das Selbstverständnis des eigenen Tuns im Orchester herauszuarbeiten, um die Probendisziplin zu erhöhen und den Zusammenhalt im Orchester zu stärken.
Das klare, sehr lesefreundliche Layout wird von einleuchtenden Grafiken begleitet. Der Text spricht den Leser unmittelbar an und nimmt ihn an die Hand – so wie das Orchester auch sein Publikum behandeln sollte. So eingängig das Buch geschrieben ist, die Anwendung der Werkzeuge erfordert genaues Lesen und Sorgfalt bei der Umsetzung. Besonderes Fachwissen ist aber nicht erforderlich. Damit entspricht das Anliegen des Buches dem, worum es auch bei der Gewinnung neuen Publikums geht: Leser bzw. Publikum möglichst entgegenkommend auf eine anspruchsvolle Tätigkeit, nämlich die Organisation von Konzeptkonzerten bzw. das Hören klassischer Musik vorzubereiten.
Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie (der auch aus der BDLO-Akademie bekannte) Beat Fehlmann mit diesen Werkzeugen im nicht gerade als Klassik-Metropole bekannten Ludwigshafen für ein stets volles Haus sorgt, wird hier fündig: https://www.staatsphilharmonie.de/de/stadtphilharmonie.



