Der folgende Text geht der Frage nach, wie Komponist:innen zu ihrem Ausgangsmaterial, ihrem »zündenden« Einfall kommen, woher sie Motiv und/oder Melodie nehmen, aus denen sie ihre Kompositionen entwickeln.
»Von oben« hieße wohl die erste und rasche Antwort auf die gestellte Frage: Eingebung, schöpferische Intuition, von Gott gesandt … und wenn man mancher Selbstaussage glauben darf, ist das durchaus eine Option, die mitunter das ganze Werk umfassen kann – Puccini: »Die Musik zu ›Butterfly‹ wurde mir von Gott diktiert; ich fungierte lediglich als Werkzeug«; Strauss: »Während die Ideen auf mich einströmten, […] war es mir als diktierten mir zwei gänzlich verschiedene allmächtige Wesenheiten.«1 Čajkovskij schreibt in einem Brief an seine Gönnerin Frau von Meck: »[Manchmal] taucht ein ganz neuer, selbständiger musikalischer Einfall auf, den ich im Gedächtnis festzuhalten suche. Woher das alles kommt, ist ein undurchdringliches Geheimnis.«2
Bei genauerer Betrachtung der Musikgeschichte aber darf man wohl sagen, dass die Einfälle eher selten aus dem luftleeren Raum seliger Eingebung kommen; »Beispiele für verschiedene Inspirationsarten lassen sich quer durch alle Musikepochen und -stile zur Genüge finden. Sie sind allerdings meist nicht nur zeit- und komponisten-, sondern zudem werktypisch.«3 Einige dieser verschiedenen Inspirationsarten sollen in der Folge vorgestellt werden.
1. Während der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert war es üblich, dass sich Komponisten beim großen Fundus der gregorianischen Melodien bedienten und zu einer dort entnommen Melodie beispielsweise eine Messe oder eine Motette schrieben. Das Ausgangsmaterial lag also vor, die Kompositionstechnik der Imitation auch.
2. Gleichzeitig entwickelte sich in dieser Zeit eine Art »Figurenlehre«, die zwar nicht als feststehendes Theoriegebäude zu verstehen war, aber in Anlehnung an die Regeln der Rhetorik diese auch auf musikalische Äußerungen übertrug. »Die Begegnung mit der musikalischen Rhetorik setzte dabei im Kompositionsunterricht nach der satztechnischen Unterweisung […] ein, also nach dem Studium der Vorschriften und Regeln der ›musikalischen Grammatik‹. Auf dieser höchsten Stufe lernte der Schüler die Mittel kennen, mit denen er eine Komposition kunstvoller gestalten und einen Text musikalisch ausdrücken konnte.«4 Das war also sozusagen ein prachtvoller »Baukasten« voll der unterschiedlichsten Möglichkeiten, durch deren Gebrauch man im Dienst der Verdeutlichung eines Textes sogar gegen die eigentlich geltenden Satzregeln verstoßen konnte und sollte. Viele Komponisten griffen in diese »Kiste«, einschlägige Beispiele könnten eine ganze Bibliothek füllen. Da gibt es etwa die Umsetzung von Bewegungsrichtungen oder von »oben« und »unten«; ist etwa von »Tiefe« die Rede, führt die Melodie nach unten und umgekehrt (Bach: Kantate BWV 131; Byrd: Lord, hear my voice).
3. Aber auch Gegenstände, beispielsweise eine Waage, können die Idee für einen Melodieverlauf liefern. Im folgenden Beispiel ist der Einfall des musikalischen Motivs durch ein Nachzeichnen der Waage initiiert. (Graupner: Kantate »Lobet den Herrn«).
4. Handelt es sich um Wellen, kann der Komponist eine Wellenbewegung entwerfen – sogar dann, wenn der Sinn des Textes der Wellenbewegung entgegenläuft wie im folgendem Beispiel aus Händels Vertonung des 89. Psalms.
5. Auch die Kreuzfigur wird in vielen Passionen durch eine entsprechende Notenfolge dargestellt. Im Chorsatz »Lasst ihn kreuzigen« aus der Matthäuspassion entwirft Bach ein entsprechendes Motiv, wobei im folgenden Beispiel die Kreuzigung Christi auch noch durch die dissonanten Sprünge einer verminderten Quarte (gis-c‘) und einer verminderten Quinte (dis-a), zweier im strengen Satz nicht erlaubter Intervalle, verdeutlicht wird.
7. Weitere Beispiele für eine nicht musikalische Anregung zur Motivgewinnung finden wir in der Naturnachahmung. Nicht erst die sogenannte Programmmusik des 19. Jahrhundert zwischen Smetanas Moldau und Strauss’ Alpensinfonie, um zwei herausragende Werke zu nennen, bedient sich der Anregungen aus der Natur. Schon in der Zeit der Renaissance begegnen wir etwa Vogelstimmen, die in Kompositionen nachgeahmt werden oder auch dem in die Natur eingreifenden Menschen, etwa bei Jagdmusiken. Die Anregungen sind so vielfältig, dass zu diesem Thema ein zweibändiges Lexikon über die Stoffe und Motive, derer sich Komponist:innen bedien(t)en, entstanden ist, das überdies auch menschliche und technische Eigenschaften (Wandern, Reiten, Eisenbahn, …) berücksichtigt.5
8. Ein Sonderfall, der sich durch die ganze Musikgeschichte zieht, ist die martialische Musik. Im Gefolge der Herrscher gab es nicht nur gleichermaßen hochbegabte und eilfertige Hofpoeten, Maler und Bildhauer, die die militärischen Siege ihrer Fürsten zu verherrlichen hatten, auch die Musiker waren gefordert. Schon von dem französischen Komponisten Clement Janequin (ca. 1485–1558) gibt es nicht nur »Les Chansons du chant des oiseaux« oder »Le Chant du rossignol« sondern auch »La Bataille du Marignan«, »Les Chansons de la guerre«.6 Als weitere Beispiele seien die Militärsinfonie von Haydn (Sinfonie Nr. 100), die Ouvertüre »Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria« von Beethoven oder die »Festouvertüre 1812« von Čajkovskij, die den Sieg Russlands in den Napoleonischen Kriegen 1812 darstellt, genannt. Die Motive zur Kriegsmusik liefern hier unter anderem Kanonenschüsse und Militärsignale.
9. Ähnlich der oben erwähnten Möglichkeit, sich vorhandener gregorianischer Melodien als Ausgangspunkt für eine Komposition zu bedienen, finden wir dann vor allem im 20. Jahrhundert Komponisten, die sich Volksliedmelodien als musikalisches Grundmaterial nehmen. Béla Bartók und Zoltán Kodály seien hier genannt.
10. Beginnend mit der Barockzeit, in der das tonale System entsteht, das ein Denken auch in Akkordfolgen entwickelt und verfestigt, gibt es dann sehr häufig Motive, die aus den zwei Grundelementen Dreiklang oder Tonleiter entwickelt werden.
Beispiele für Dreiklangsbrechungen:
- Mozart, Eine kleine Nachtmusik, KV 525, erster Satz – Das Stück beginnt unisono mit einem gebrochener G-Dur-Dreiklang, dem ein gebrochener D7-Klang folgt.
- Haydn, Sinfonie Nr. 94 (Paukenschlag-Sinfonie), zweiter Satz – Haydn verwendet das Material von Tonika und Dominante vergleichbar.
- Beethoven, Symphonie Nr. 3 (Eroika), op. 55, erster Satz – Nach zwei Es-Dur-Akkordschlägen, die die Sinfonie eröffnen, folgt in den Celli ein gebrochener Es-Dur-Dreiklang, der allerdings am Ende der Dreiklangslinie in den tonartfremden Ton »cis« mündet, der doch gleich mal für eine gewisse Irritation sorgt.
Man hat Beethoven vorgeworfen, dass seine Motivwahl gelegentlich recht schlicht ausfalle – das kann man so sehen und das ließe sich manch anderem auch vorwerfen; die Kritiker übersehen dabei aber, dass sich umso mehr mit einem Motiv anstellen lässt, je einfacher es »gestrickt« ist.
Der Anfang des letzten Satzes aus Beethovens 1. Sinfonie. Hier nimmt er fünf Mal Anlauf, bis er endlich seine Tonleiter zusammen hat und der Satz beginnen kann (so etwa nach dem Motto: ich zeig euch mal, was man mit einer Tonleiter alles machen kann).
In Mozarts Oper »Le Nozze di Figaro« gibt es eine Stelle, in der sich die Violinen acht Mal hintereinander über fast zwei Oktaven nach unten stürzen – langweilig und einfallslos? Es handelt sich um die Arie Figaros »Non più andrai« aus dem 1. Akt, in der er Cherubino, den Graf Almaviva zum Militär abgeordnet hat, verspottet, um ihn als Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen. Die Musik dieser Arie verändert sich nach und nach, wird immer aggressiver und mündet gegen Ende in einen Militärmarsch. Der Tübinger Musikwissenschaftler Arnold Feil sieht in den Tonleiterkaskaden ein Symbol für Langeweile und Dumpfheit des Militärs.
Dreiklang und Tonleiter gleichzeitig:
Bach, Weihnachts-Oratorium (BWV 248), Eingangschor – Der im Unisono einsetzende Chor singt auf die Worte »Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage« einen gebrochenen D-Dur-Dreiklang. Zuvor schon hatten die Pauken mit dem ersten Chormotiv das Stück eröffnet, worauf die drei Trompeten den D-Dur-Dreiklang zu fallenden Tonleitern in den Flöten und Violinen beisteuern. Die Motivwahl Bachs wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass es sich hier um die Neutextierung einer weltlichen Kantate (BWV 214) handelt, deren Text lautet: Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten.
11. Eine ganz und gar nicht musikalisch grundierte Motivfindung zeigt sich in der Übernahme von Worten, die aus Tonbuchstaben bestehen. Das berühmteste Beispiel ist Johann Sebastian Bach, der das musikalische Äquivalent seines Namens in einer (nicht zu Ende komponierten) Fuge seines Werkes »Die Kunst der Fuge« als Thema einführt. Aber auch in weiteren Kompositionen von ihm ist »b-a-c-h« zu finden. Außerdem gibt es von einer ganzen Reihe von Komponisten nach ihm Werke über dieses Motiv.
Schumann hat in seinem »Album für die Jugend«, op. 68 ein Stück veröffentlicht, das »Nordisches Lied« heißt. Unter dem Titel ist vermerkt: »Gruß an G.« »G.« meint den dänischen Komponisten Niels Wilhelm Gade, mit dem Schumann befreundet war und dem er dieses Stück widmet, das seinen Namen als musikalisches Motiv »g-a-d-e« benutzt.
In diesem Zusammenhang sei auch auf Max Reger hingewiesen, der in seiner Violinsonate C-Dur, op. 72 »seiner Wut über die Kritikerzunft Ausdruck gab […] Auch wenn die Sonate rein musikalisch zu analysieren ist, spiegelt der hartnäckige Einsatz der Motive über die Noten es-c-h-a-f-[e] und a-f-f-e Wut, Verzweiflung und Verletztheit wider.«7 Zeigt aber auch seinen Witz und Humor, möchte man hinzufügen.
12. Kurios wird es, wenn wir einer Anekdote Glauben schenken wollen, die von Jean-Philippe Rameau (1683–1764) überliefert ist: Auf die Bemerkung einer Bewunderin, sie halte Komponieren für eine äußerst schwierige Sache, versicherte Rameau: »Nichts leichter als das! Sie können es selbst auf der Stelle versuchen, wenn Sie wollen.« Er reichte der jungen Dame eine Blatt Notenpapier und eine Nadel und bat sie, die Notenlinien nach Belieben mit Nadelstichen zu punktieren. Als sie fertig war, verwandelte Rameau die Nadelstiche in Notenköpfe, teilte Takte ab und bezifferte die Harmonien. Das so entstandene Stück fügte er in seine Oper Les Indes galantes ein.8 Wenn ich nur eine der Anekdoten aus dieser Sammlung als zutreffend bezeichnen müsste, fiele meine Wahl ohne zu zögern auf diese.
13. Rameau blieb nicht allein mit seiner Idee. Für das Musikstück »Herkules, der Drachentöter« übertrug der Komponist Klaus Schweizer (*1939) die Sternbilder »Herkules« und »Drache« in eine leere Partitur und gewann daraus seine Noten.9 Solcherart entstandene Musik kann man letztlich nur verstehen, wenn man auch die Noten vor sich sieht – denn dass da gerade Sternbilder gespielt werden, das kann man nicht hören.
Über John Cage (1912-1992) ist zu lesen: »Von 1952 bis 1957 benutzte er häufig die Unebenheiten von holzhaltigem Papier, die er markierte und über die er Notensysteme legte, um die Tonhöhen zu erhalten.«10 In seinem Werk Music for Piano 21–52 (1955) kommt dieses Kompositionsprinzip zum Einsatz.
Nun, man darf sicher der Meinung sein: das kann ja jeder, da kann doch keine gescheite Musik rauskommen … aber damit macht man es sich wohl doch etwas zu einfach. Hier ist der Mut zur Konfrontation mit dem Ungewohnten gefordert, die Bemühung um Begegnung mit – im Wortsinn – dem »Unerhörten«, die Neugierde wecken möchte, nicht voreilige Ablehnung.
Vor mehr als 20 Jahren hat Claudia Kayser-Kadereit in ihrer Studie zum Repertoire unserer Amateurorchester die folgende Hitliste im Bereich der Sinfonien veröffentlicht und dazu mitgeteilt, dass diese Zusammenstellung seit Jahrzehnten quasi unverändert so tradiert werde (ich nenne hier die ersten acht Nummern):
1. Beethoven, Sinfonie Nr. 1 | 2. Schubert, Sinfonie Nr. 7 (Unvollendete) | 3. Schubert, Sinfonie Nr. 5 | 4. Haydn, Sinfonie Nr. 104 | 5. Beethoven, Sinfonie Nr. 2 | 6. Mozart, Sinfonie KV 201 | 7. Haydn, Sinfonie Nr. 94 (Mit dem Paukenschlag) | 8. Mozart, Sinfonie KV 55011
1) Rösing Helmut, Psychologische Aspekte der Komposition, in MGG neu, Sachteil Bd. 5, Sp 551, Kassel u.a., 1996
2) Morgenstern Sam (Hg.), Komponisten über Musik, München 1956, S. 229
3) Rösing, ebd.
4) Krones Hartmut, Musik und Rhetorik, in MGG neu, Sachteil Bd. 6, Sp. 822, Kassel u.a., 1997
5) Schneider Klaus, Lexikon Programmmusik, Stoffe und Motive, Kassel u.a., 1999; Schneider Klaus, Lexikon Programmmusik Band 2: Figuren und Personen, Kassel u.a., 2000
6) Lieder vom Gesang der Vögel, Das Lied der Nachtigall, Die Schlacht von Marignano, Kriegslieder
7) Popp Susanne, Max Reger – Werk statt Leben, Wiesbaden 2015, S. 189
8) Meid Volker (Hg.), Lachen nach Noten, München 1984, S.11f
9) Schweizer Klaus, Herkules, der Drachentöter in: Klänge unterwegs, Herrenberg 1977, ohne Seitenzahlen
10) Erdmann Martin, Cage, John (Milton) in MGG neu, Personenteil Bd. 3, Sp 1572, Kassel u.a., 2000
11) Kayser-Kadereit, Das Laiensinfonieorchester im Horizont von Anspruch und Wirklichkeit, Osnabrück 2002, S.61