Aus dem concentus alius, dem homophilharmonischen Orchester Berlin, das im BDLO-Jubiläumsjahr sein 25-jähriges Bestehen feiert, erreicht uns dieser ganz persönliche Erlebnisbericht von Richard Harnisch, Stimmführer der Bratschen.
25 Jahre concentus alius – ein Orchester fürs Leben
Der 21. März 2003 ist ein folgenreicher Frühlingsanfang in meinem Leben. Eigentlich neige ich nicht zu Pathos, und solch einen Satz hätte ich vermutlich nie aufgeschrieben, hätte ich mich nicht bereit erklärt, diesen Text anlässlich unseres Winterkonzertes im 25. Jubiläumsjahr des concentus alius für unser Programmheft beizusteuern. Aber keinen anderen der ersten Sätze, die ich ausprobiert habe, fand ich – Bratschist im 21. Jahr meiner Mitgliedschaft in diesem Orchester – passend genug, um die Bedeutung des concentus aus meiner persönlichen Perspektive zu beschreiben. Denn ohne dieses Orchester wäre mein Leben ein ziemlich anderes …
Der Reihe nach: Begonnen hat alles mit einer Kleinanzeige in der Siegessäule. Die Annonce »concentus alius Berlins erstes schwullesbisches Orchester sucht … Mitspieler/innen« war Anfang der 2.000er mehrere Jahre lang als Dauer-Abo in Berlins queerem Stadtmagazin geschaltet.
Der andere Zusammenklang« – concentus alius – so ein rätselhafter Name für ein Orchester. Ob es sich lohnt, dort mal vorbeizugehen? Das fragte ich mich – damals 25-jährig – schon eine Weile. Zwar bin ich bereits etliche Jahre geoutet, aber mit der schwulen Szene fremdele ich mitunter etwas. Geht es denen ernsthaft ums gemeinsame Musizieren? Ich bin skeptisch. Aber die Neugier überwiegt. Mit meiner Pultnachbarin Isabella, mit der ich zuvor fünf Jahre als Student in der Potsdamer Sinfonietta gespielt habe, gehe ich also am Freitag, 21. März 2003, das erste Mal ins Rathaus Charlottenburg zu einer Probe des concentus. Wir setzen uns in die ersten Geigen und proben drei Stunden mit. Auf dem Pult: die Ouvertüre zur »Fledermaus«.
Ich bleibe. Bis heute 21 Jahre. Über 600 Proben, mehr als 100 Konzerte oder Auftritte. Ich finde eine musikalische Heimat in Berlin. Und weit mehr als das (dazu später mehr). Meine erste Probe im concentus bleibt allerdings die einzige mit der Geige. Ab der zweiten wechsele ich zur Bratsche. Denn die ist im Jahr 2003 – bis auf Aushilfen für die Konzerte – noch vakant. Ein Orchester ohne Bratschen? Undenkbar! Da ich damals seit einem halben Jahr auf einer ausgeliehenen Bratsche übe und mich immer mehr in den warmen Klang des schönen Instruments verliebe, wage ich den Wechsel und stelle ab meiner zweiten Probe die Bratschen-»Gruppe« im concentus. C-Saite statt E-Saite. Learning by doing. Ich habe den Tausch nie bereut – auch wenn ich zu dem Zeitpunkt mit der feinen Kammerorchesterbesetzung von damals etwa 25 Mitspieler*innen noch nicht zu träumen wage, in ferner Zukunft mal Bratschentraumwerke wie Tschaikowskis »Pathétique« mit diesem Orchester aufzuführen (dazu wird es erst 13 Jahre später im Jahr 2016 kommen).
Die Grünen Jahre
Mein Beginn im concentus fällt in die Epoche unseres Dirigenten Robert Grünberg. Im Frühjahr 2000 übernimmt er die Leitung des jungen Klangkörpers im ersten Jahr seines Bestehens. Über sechs Jahre leitet er das Orchester und trägt maßgeblich dazu bei, dass wir unseren eigenen Stil der ersten Jahre ausprägen: Wir werden zu einem Salonorchester. Und wir sind stolz darauf. Unter dem Motto »Klassik im Salon« treten wir damals im kuscheligen Ballhaus Naunynstraße auf (Platzkapazität etwa ein Zwanzigstel der Berliner Philharmonie).
In der ersten Programmhälfte spielen wir »ernste« Musik – eine Haydn-Sinfonie, ein Horn-Konzert von Mozart oder eine Beethoven-Ouvertüre. Ganz anders nach der Pause: Opern- und Operettenpotpourris, zum Beispiel aus dem Vogelhändler oder aus La Bohème. Bei Strauss’ »Kaiserwalzer« oder »Rosen aus dem Süden« wird geschunkelt, und auch Mitsingen ist erlaubt, etwa bei unseren Evergreens »Weißes Rössl« von Ralph Benatzky oder Paul Linckes »Berliner Luft«. Diese Schlager stehen damals spätestens als Zugabe bei jedem Auftritt auf dem Programm. Unser Dirigent Robert, der blütenrein und mit sonorem Volumen von Bass bis Sopran intoniert, dreht sich dabei regelmäßig singend zu den Gästen um und bringt den Saal zum Toben. Nach dem gefühlten Applausometer hört sich unser Publikum den ersten Teil zwar artig an, feiert uns dann aber doch besonders für die leichte Muse im zweiten Konzertteil. Ja, ein durchaus »anderer Zusammenklang«, den wir hier bieten. So bunt wie unser Programm ist unser Look: Konzertkleidung unten schwarz, oben kräftige Farben aus dem Regenbogen.
Die Wechseljahre
Gerade als wir uns ein Markenzeichen geschaffen haben, tritt Robert als Dirigent ab. Mit »Klassik im Salon 9« enden 2006 unsere Grünen Jahre und vor uns stehen einige turbulente Jahre – im Rückblick fühlen sie sich an wie unsere frühen Wechseljahre.
Wir laden zum Vordirigieren ein, stimmen ab (denkbar knapp und kontrovers) und versuchen es mit neuer Leitung. Doch es stellt sich keine Konstanz ein, in den kommenden vier Jahren haben wir drei Dirigenten. Wir verlieren einige Mitspieler*innen, gewinnen dafür andere hinzu. Und doch wachsen wir auch in dieser Zeit weiter: Das Ballhaus wird zu klein für uns, rasch etabliert sich die Emmaus-Kirche in Berlin-Kreuzberg als Konzertlocation unserer Wahl. Und dann, kurz nach unserem Jubiläumskonzert zum zehnjährigen Bestehen, beginnt im Jahr 2010 unsere bis heute andauernde Epoche.
Die Silbernen Jahre
Eine junge Bratscherin des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin (RSB) mit Dirigierambitionen wird von ihrem Vorgänger, ebenfalls Profi-Bratscher, an uns vermittelt: Christiane Silber. Seit 14 Jahren ist Christiane nun unsere künstlerische Leitung und hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Und ohne sie wären wir nicht dort, wo wir heute sind: zum ersten Mal in der Berliner Philharmonie. Christianes zielstrebige und perfekt vorbereitete Probenarbeit, ihr Sinn für interpretatorische und intonatorische Details und ihre gut verständlichen Ansagen und Tipps sind für uns ein neues Training. Die Programme werden herausfordernder (mitunter finden manche von uns einzelne Stücke an der Grenze zur Überforderung – und, ja: auch die Bratschenstimme muss man üben!). Aber wir spüren alle: Wir wachsen an der intensiven Arbeit sowohl mit den großen Meistern als auch mit den wenig bekannten Komponist*innen, die bei uns auch oft auf dem Pult stehen. Passagen, die erst unspielbar wirken, klappen dann (meist) doch. Gemeinsam polieren wir an unserem Klang, nehmen die Stücke auseinander, perfektionieren das Aufeinanderhören. Es macht Spaß und es lohnt sich: Je besser wir werden, umso mehr Zuwachs von ambitionierten, teilweise gar professionellen, Mitspieler*innen bekommen wir.
Das führt schließlich zu einer Namensänderung: Im Jahr 2013 muss der Zusatz »Kammer« vorm »Orchester« in unserem Titel weichen. Immer mehr große sinfonische Werke ziehen in unsere Programme ein – Berlioz, Brahms, Dvořák, Schubert, Schumann, Tschaikowski … – und heute Premiere: unsere erste Mahler-Sinfonie. Wir sind erwachsen geworden.
Wo bei uns die Musik noch so spielt
Erwachsen werden langsam auch die ersten Orchester-Babys. Schon immer spielt beim concentus viel Musik auch zwischen den Orchesterterminen. So haben quer durch die Instrumentengruppen – von Klarinette mit Horn über Oboe und Cello mit Bratsche bis hin zu Geige mit Cello – im Orchester Lesben und Schwule mit Kinderwunsch zueinandergefunden und leben eine gemeinsame Elternschaft. Über die Jahre haben so fünf Kinder in concentus-Regenbogenfamilien das Licht der Welt erblickt. Meine eigene Tochter ist heute 15 Jahre alt.
Neben solchen queeren Familiengründungen hat der concentus etliche Paare zueinander geführt und Freundschaften begründet. Parallel zum Orchester ist eine Community aus Kammermusikliebhaber*innen gewachsen, die in verschiedensten Ensembles miteinander musizieren und ihre gemeinsame Leidenschaft pflegen. Was für mich gilt, trifft für viele von uns im concentus alius zu, so mein Eindruck: Das Orchester ist ein Zuhause geworden, ein Orchester fürs Leben.
Ein anderer Zusammenklang?
Und was hat es mit dem »homophil« aus unserem Untertitel auf sich? Warum ein lesbisch-schwules Orchester? Ist das in einer Zeit weitgehender Gleichberechtigung überhaupt noch relevant und zeitgemäß? Diese Fragen hören wir mitunter.
Der Versuch einer Antwort aus Binnensicht: Viel wichtiger, als dass wir schwul oder lesbisch sind, ist in unserem Orchesteralltag, dass wir musikbegeistert sind. Unsere Mitspielenden, die nicht aus »der Familie« sind (ja, die gibt es, wir sind hetero-friendly), sind für unseren Zusammenklang genauso wichtig wie alle anderen. Aber dennoch ist es ein wichtiges und zeitloses Wesensmerkmal unserer Identität als concentus alius und unseres Miteinanders als Musiker*innen in diesem Orchester, dass wir homophilharmonisch sind.
Vielleicht entsteht ein anderer und auf besondere Art selbstverständlicher und harmonischer Zusammenklang, wenn Menschen miteinander musizieren, die voneinander wissen, dass sie in ihrem privaten Leben einer Minderheit angehören und dieses Schicksal teilen. Menschen, die zunächst lernen müssen, sich in ihrem Anderssein selbst zu erkennen, zu akzeptieren und zu lieben, die ihren eigenen Weg finden müssen und dabei auch Außenseiter- und Diskriminierungserfahrungen machen. Menschen, die lernen, anders auf sich und aufeinander zu hören.